Der Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, sorgte bei seinem Besuch in Schaffhausen für eine volle Rathauslaube. Mit Blick auf die Kriege und Krisen mit geopolitischem Hintergrund weltweit führte er einem interessierten Publikum die Notwendigkeit einer unmittelbaren Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee vor Augen.
Spätestens seit dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in die Ukraine ist die Hoffnung auf einen anhaltenden Frieden in Europa geplatzt. Dadurch rückt die Schweizer Armee und deren Fähigkeiten wieder vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund zeigte der Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli, in einem gut einstündigen Referat die Notwendigkeit zu Handeln und mögliche zukünftige globale Entwicklungen auf. Das Referat wurde von der Schaffhauser Vortragsgemeinschaft veranstaltet und stand unter dem Patronat der Kantonalen Offiziersgesellschaft (KOG) Schaffhausen.
Gefährlichste Möglichkeit ins Zentrum stellen
Bis auf wenige Plätze war die Rathauslaube gefüllt. Denn nicht oft besteht die Möglichkeit, die Einschätzungen des obersten Schweizer Militärs direkt zu hören und ihm Fragen stellen zu können. Dabei verbindet Korpskommandant Süssli ein besonderes Erlebnis mit der Munotstadt: «Ich habe auf dem Munot meinen Offiziersdolch bekommen.»Nach dieser persönlichen Anekdote leitete er filigran auf die Fähigkeiten der Schweizer Armee oder vielmehr auf die Lücken der Verteidigungsfähigkeit über. Dabei rekapitulierte er die umgesetzten und angedachten Massnahmen der letzten zwei Reformen, der Armee 21 und der Weiterentwicklung der Armee (WEA). Mit der WEA wurde unter anderem die Vollausrüstung der Armee angestrebt, wovon diese jedoch noch weit entfernt sei. «Wir können aktuell ungefähr einen Drittel der Armee voll ausrüsten», erklärte Süssli. Im Klartext heisst dies, bei aktuell 17 Infanteriebataillonen reiche das Material gerade für deren sechs, von den vier Artillerieabteilungen könnte eine ausgerüstet werden. Zudem sei die Munitionsbevorratung auf die Ausbildung ausgelegt und nicht auf einen Einsatz. «Bis jetzt konnten wir alle Aufträge erfüllen, haben letztes Jahr sechs Assistenzdienste erfolgreich geleistet», blickte Süssli zurück. Doch nun sei es aufgrund der globalen Entwicklung an der Zeit, nicht die wahrscheinlichste gegnerische Möglichkeit ins Zentrum zu stellen, sondern die gefährlichste.
«Wir leben in einer Zeitenwende»
Um die Dringlichkeit des Handelns zu unterstreichen, liess Süssli seine Zuhörer an den Informationen teilhaben, welche er auf diversen Besuchen in den USA und Europa gesammelt hatte. So habe er in Estland die Angst vor einem Einmarsch Russlands gespürt. Das Land im Baltikum gehe davon aus, dass Russland bis ins Jahr 2027 so weit aufgerüstet habe, um den Konflikt weiter zu eskalieren. Die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft in Russland unterstreiche diese Annahme. «Letztes Jahr wurden in Russland 1000 Panzer hergestellt und ein neues Armeekorps wird gebildet», betonte er. Die Entschlossenheit habe er auch anhand der Rhetorik in Polen erlebt. Darum würden die Länder im Osten alles daran setzen, schon 2026 die angestrebte Breitschaft zu erreichen. Um die Gefahr einschätzen zu können, müsse die Denkweise und das Ziel Russlands verstanden werden. Angestrebt werde von Russland ein neutraler Gürtel entlang seiner Grenze, eine Destabilisierung des Westens sowie ein geteiltes Europa. «Wir leben in einer Zeitenwende», meinte Süssli. Denn nicht nur Russland liebäugelt mit einem schwachen Westen. «Es gibt Länder, die eine multipolare Welt anstreben, in welcher autokratische Staaten den gleichen Stellenwert wie die Demokratien haben», erklärte er. Darum spiele die Region im Südchinesischen Meer und im Speziellen die Entwicklung rund um Taiwan eine ebenso zentrale Rolle in der globalen Entwicklung. Denn die Anzeichen würden auch in diesem Teil der Welt auf einen Konflikt hindeuten. Das Jahr 2027 werde als möglichen Zeitraum für den Versuch gehandelt, Taiwan wieder unter chinesische Kontrolle zu bringen.
Antizipieren und handeln
Als eines der gefährlichsten Szenarien beschrieb der Chef der Armee die Entwicklung, falls der Konflikt um Taiwan den Fokus der USA auf sich ziehen und der Krieg in der Ukraine nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit bei den Entscheidungsträgern der USA bekommen würde. Dieses Szenario könnte durch einen «Deal» Russlands mit den USA noch wahrscheinlicher werden – eine durch die Blumen geäusserte Möglichkeit, wenn Donald Trump wiederum zum Präsidenten gewählt würde. Die dadurch entstehende Lücke in Europa könnte wahrscheinlich durch kein anderes Land kompensiert werden. Dies wiederum könnte den Erfolg Russlands in der Ukraine ermöglichen. In diesem Szenario wird mit einem Flüchtlingsstrom von rund 5 Millionen Menschen gerechnet. Wagner-Truppen in Afrika könnten für zusätzliche Migration aus dem Süden sorgen. Dadurch stünde Europa vor einer noch nie dagewesenen Herausforderung, ohne überhaupt in Kampfhandlungen involviert gewesen zu sein. Ein Zerfall Europas wäre die mögliche Folge. Um für eine derartige Lageentwicklung gewappnet zu sein, müsse die Schweiz antizipieren und die Verteidigungsfähigkeit wieder erreichen. Es sei Zeit zu handeln. Denn Projekte in der Schweiz dauerten von der Initiierung bis zur Realisierung zwischen 7 und 12 Jahre.
Moderne Verteidigungsfähigkeit gefordert
Die Ausführungen von Korpskommandant Thomas Süssli, dem Chef der Schweizer Armee, rüttelten auf. Ohne direkt auf die politische Debatte um die Finanzierung der Armee einzugehen, war die Botschaft klar: Ohne die notwendigen finanziellen Mittel für die Armee manövriert sich die Schweiz auf Kosten der Sicherheit ins Abseits. Er plädierte für eine moderne Verteidigungsfähigkeit. «Wir müssen auch die Chancen der Technik nutzen», führte er aus. Zwar seien mechanisierte Verbände noch immer zentral, aber auch der Informationsraum sowie der Cyberraum seien in der Prioritätenliste weit nach vorne gerutscht. «Werden die zwei Räume genauer betrachtet, sind wir jetzt schon in einem hybriden Kampf», verdeutlichte Süssli. Dies werde sich mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz verstärken. Auch hier dürfe die Schweiz den Anschluss nicht verpassen, denn China wie auch Russland würden damit schon experimentieren. Grosse Chancen sieht er vor allem im Bereich der Sensorauswertung und der Lageanalyse.
Zudem soll die internationale Zusammenarbeit gestärkt werden, wobei Süssli sogleich bekräftigte, dass der Beitritt zur NATO in keinem Szenario vorgesehen sei. Hingegen müsse mit anderen Staaten auf verschiedenen Ebenen kooperiert werden . «Wir müssen ja nicht die gleichen Fehler machen wie andere, wir können voneinander lernen», erklärte er. Für eine glaubwürdige Souveränität sei es wichtig, die Armee zu stärken. Dabei dürfe folgendes nicht vergessen werden: «Die Armee besteht nicht zum Selbstzweck, sie gewährleistet die Sicherheit für die Schweiz und deren Bewohner.»